Junge Welt
27.09.2001
An jedem Punkt der Erde
Die Militärstrategie der USA (1).
Von Hans-Werner Deim (*)
Die hinterhältige Terroroperation vom 11. September 2001 gegen Machtzentren des Welthegemonen hat unmißverständlich deutlich gemacht, worin mit dem Ende des Kalten Krieges das Sicherheitsrisiko der USA besteht. Um die Supermacht empfindlich zu treffen und zu demütigen, ihre Führung zeitweilig zu lähmen, bedurfte es keiner nuklearen und konventionellen Gefechtsköpfe, keiner modernen Präzisionswaffen und keiner Bomben des freien Falls. Dafür genügten zwei Dutzend Terroristen mit unerbittlichem Tat- und Führungswillen.
Diese mit dem Bombenanschlag auf das New Yorker World Trade Center schon 1993 vermittelte Erkenntnis wurde in den Wind geschlagen. Die strategischen Paradigmen galten als unantastbar. Die Herausforderungen hatten sich verändert, aber der neue Präsident setzte die Vorbereitung auf den zum Glück und dank des ausgeglichenen Kräfteverhältnisses zwischen USA und UdSSR, NATO und Warschauer Vertrag nicht stattgefundenen globalen Krieg fort. Als den Raketen und Bomben gleich, die wochenlang Bagdad und Belgrad heimgesucht hatten, jetzt vollgetankte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Center einschlugen, besann man sich wieder nur auf das, was man im Überfluß zu besitzen und am besten zu beherrschen glaubt: Streitkräfte und Bomben zum Stillen des Rachedurstes.
Es erschreckt, wie eng und armselig die Schlußfolgerungen der USA aus der ökumenischen Katastrophe vom 11. September sind. Kein Gedanke an eigene Schuld gegenüber anderen Kulturen und Völkern der Welt. Kein Gedanke daran, daß Raketen, Bomben und Granaten auch diesmal wieder zu 90 Prozent unschuldige Zivilisten treffen werden. In Kraft gesetzt werden Pläne der offenen und gedeckten strategischen Entfaltung der Streitkräfte auf dem Mega-Schauplatz Naher und Mittlerer Osten sowie Nordafrika. Der Einsatz soll die Form eines Feldzuges (Campaign) annehmen. Unter diesem Begriff verstanden die Militärs, solange sie ihn (bis Ende des Zweiten Weltkrieges) verwandten, die Gesamtheit der Operationen, Schlachten, Schläge und Gefechtshandlungen nach einheitlicher Idee und Plan auf einem Kriegsschauplatz, dessen Rahmen Kalenderjahre oder Jahreszeiten bildeten. In diesen Zusammenhängen ist es aufschlußreich, die Bestimmung, Ausrichtung und Entwicklung der Streitkräfte der USA von der Zeit des Kalten Krieges bis in die nächste Zukunft zu beleuchten.
Die USA sehen sich heute von der Geschichte und von Gott mandatiert, der Menschheit ihre Weltsicht und die Verhaltensregeln in der internationalen Arena zu diktieren. Das neue System der internationalen Beziehungen kann daher als Washingtoner System bezeichnet werden. Es beendet endgültig das Kräftegleichgewicht zwischen den bisherigen Hauptakteuren der Weltpolitik. Finanzökonomisch, politisch, diplomatisch und medial soll es vor dem Hintergrund des Kraftfeldes gestaltet werden, das die Streitkräfte der USA bilden. Die amerikanische Weltführerschaft stützt sich auf die Gefechtsbereitschaft und -fähigkeit ihrer Streitkräfte.
Das Washingtoner System hat die zeitlich vor ihm geschaffenen Institutionen (UNO, Sicherheitsrat, OSZE u.a.) formell nicht angetastet. Faktisch aber hat es ihre normative und koordinierende Rolle durch »stille Revolution« (in der UNO) und blutige Aktionen (in der Bundesrepublik Jugoslawien) grundlegend zu verändern versucht. Alle bedeutsamen internationalen Rechtsakte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in Frage gestellt.
Die USA billigen unter den »übernommenen« Institutionen nur der NATO eine eigenständige militärpolitische Rolle zu. Dieses Zugeständnis an die alten, die neuen und die zukünftigen Verbündeten sichert den USA deren Gefolgschaft und Kontrolle sowie die weitere Expansion der NATO nach Osten. Das neue globale System soll helfen, die geopolitischen Hauptopponenten Rußland, China, Indien und in gewisser Weise auch Japan durch Unterordnung, Isolation und Teilung zu neutralisieren.
Die geopolitischen Ziele
Um globale Hegemonie zu erreichen bedarf das Washingtoner System der Unterstützung konkurrierender Staaten. Diese Unterstützung wird vom Gros der »Goldenen Milliarde« erwartet (von den Westeuropäern, den europastämmigen Nordamerikanern, von Australiern, Neuseeländern und Israelis). Mit ihnen teilen die USA ein Schicksal, die Abhängigkeit der Wirtschaftsmodelle von den natürlichen Ressourcen und Energieträgern. Dieses eine Sechstel der Menschheit beutete diese Ressourcen vor einigen Jahrzehnten zu 60 Prozent aus, heute verbraucht es 80 Prozent, in einigen Jahrzehnten werden es hundert Prozent sein. Schon mangelt es auf der Welt an Wasser, bald reicht die Luft nicht mehr. Die »Goldene Milliarde« stellt dann das Schicksal der absoluten Mehrheit der Menschheit zur Disposition. Der Washingtoner NATO-Vertrag von 1949 ist im Jahre 1999 nicht zuletzt für den künftigen zugespitzten Kampf um die Lebensgrundlagen der »Goldenen Milliarde« korrigiert worden. Die Streitkräfte der NATO dürfen nach dem neuen strategischen Konzept auch für diese Zwecke, also nicht mehr nur für die Selbstverteidigung, genutzt werden. Für die Errichtung der Hegemonie der USA seien finanzökonomische Methoden die wirksamsten, sie globalisierten am nachhaltigsten, meinen Experten. Andere Länder und Völker werten die Unterordnung ihrer Volkswirtschaften unter das Bankkapital und die transnationalen Kooperationen der USA als Ausdruck eines entfesselten Imperialismus. Die umgreifende Dollarisierung der Welt tritt als einer der wichtigsten geoökonomischen Hebel in Erscheinung, welche die USA gemeinsam mit den geopolitischen ansetzen. Die traditionellen Postulate der »klassischen« Geopolitik sind für die USA verbindlich geblieben.Zur Reproduktion ihres Wohlstandes holten sie sich immer den Geist aus Europa und die Rohstoffe aus Asien. Ihre Zukunft verbinden sie daher weiter mit der ungeteilten Kontrolle des eurasischen Herzlandes (Herzstück Eurasiens ist das Territorium des vorrevolutionären Rußlands zwischen dem 40. und dem 120. Meridian östlicher Länge).
In der Zeit des Kalten Krieges nahmen die USA das eurasische Herzland in eine geopolitische Zange. Die mit dem Herzland fast identische UdSSR sollte in einem eisernen Halbring zusammengepreßt und die Überlegenheit der atlantischen Seemächte über die scheinbar übermächtige Kontinentalmacht nachgewiesen werden. Die Politik des Druckes auf die UdSSR von den Flanken führte zum engen Bündnis mit Deutschland und Japan. Sehr bald nach dem Zweiten Weltkrieg dislozierten die USA zehn ihrer 31 Divisionen in Deutschland, davon vier in vollem Kampfbestand und sechs mit schwerer Kampftechnik, sowie vier im Fernen Osten. Von sechs operativen Luftarmeen hatten sie ständig drei in Westeuropa und drei im Fernen Osten vorentfaltet. Alle vier operativen Flotten waren ständig an die Flankenmeere gebunden, je eine an den Nordatlantik und das Mittelmeer, zwei an die Gewässer des Nordpazifik. Um die UdSSR als eurasisches Herzland wurden im Halbbogen vier Militärbündnisse plaziert: NATO (seit 1949), ANZUS-Pakt (seit 1951), SEATO (1954-1977), CENTO (1959-1979).
Seitdem die USA sich im Kalten Krieg durchgesetzt haben, verfolgen sie in Eurasien weiterreichende Ziele. Eurasien soll gefügig gemacht werden. Sein Süden und Norden sollen voneinander getrennt werden. So soll die gegenseitige Unterstützung unterbunden oder zumindest maximal erschwert werden. Daher wird die Absicht verfolgt, Eurasien vom Schwarzen bis zum Ochotskischen Meer geopolitisch horizontal zu zerschneiden. Die Schnittstelle ist kein Geheimnis geblieben. Sie wird von den Aktivitäten der USA und immer mehr auch der NATO in der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, den postsowjetischen Republiken Zentralasiens sowie gegenüber China markiert. Die USA wollen China an ihren geopolitischen Aktivitäten beteiligen. Ob der neue russisch-chinesische Freundschaftsvertrag einer chinesischen Absage gleichkommt, muß sich erst zeigen. Rußland wird seine Interessen ruhig wägen. Um der geostrategischen Horizontalen der USA eine eurasische geostrategische Vertikale entgegenzustellen, könnte sich Rußland an die Seite Indiens, des Iran und Kasachstans stellen.
Diese geopolitische Schnittstelle wird ergänzt durch Aktivitäten und Ansprüche der USA auf globale Seemacht. Kaum hatte das 8. operative Geschwader der russischen Pazifikflotte seinen Gefechtsdienst im Indischen Ozean eingestellt, schufen die USA 1995 (vier Jahre nach Ende des Kalten Krieges) ihre fünfte operative Flotte. Sie macht nun im Indischen Ozean ihren Dienst, und sie steht nach Kampfbestand und operativen Möglichkeiten den anderen Flotten nicht nach. Die USA schaffen sich Stützpunkte und Zonen für ihre weltweite Expansion in Form von Niederlassungen amerikanischer Unternehmen in Europa, Kanada, Japan, China, Südkorea oder Australien. Sie unternehmen große Anstrengungen zur Aufrechterhaltung ihrer Informationsüberlegenheit. Das Internet ist eine amerikanische Schöpfung, und das amerikanische globale Satellitensystem ist die Grundlage des weltweiten Telekommunikationssystems. CNN gewöhnt die übrige Welt an Geschmack, Denkart, Gewohnheiten und Kultur der Amerikaner. Außerdem unterhält die amerikanische Administration ein breites Netz von Einflußpersonen in Schlüsselländern der Erde. Allein in Rußland sind heute mehr als 15000 US-Amerikaner als Konsultanten, Berater und Experten tätig. Sie arbeiten sicher für Rußland, aber gewiß mehr für ihr Land.
Die Sicherheit der Konzerne
In einem Leitartikel der New York Times (28.03.1999) hat Thomas Friedman die neue traditionelle Rolle des militärischen Potentials der USA auf den Punkt gebracht: »Damit der Globalismus funktioniert, darf Amerika sich nicht scheuen, als die allmächtige Supermacht zu handeln, die es ist ... Die unsichtbare Hand des Marktes wird nie ohne den F-15-Konstrukteur McDonnell-Douglas funktionieren. Und die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, daß die Welt für McDonald’s-Niederlassungen und Silicon-Valley-Technologie sicher ist, heißt US-Heer, -Luftwaffe und -Marine.« Diese gefährliche Tendenz hält unter dem neuen Präsidenten an. Sein Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld gab schon 1998 bei der Verleihung des »Keeper of the Flame Award« für seine Arbeit als Vorsitzender der Kommission über Raketenabwehr zu verstehen: »Ich bin aus Chicago. Sie werden sich an den wunderbaren Satz von Al Capone erinnern: ›Man kriegt sehr viel mehr mit einem freundlichen Wort und einem Gewehr als mit einem freundlichen Wort allein.‹« Im Kalten Krieg bereiteten die USA ihre Streitkräfte darauf vor, sich an der Spitze von koalitionsgruppierungen gegenüber einem nahezu gleichstarken Gegner in globalen, regionalen und subregionalen Kriegen sowohl unter den Bedingungen des Einsatzes der Kernwaffen als auch herkömmlicher Waffen und konventioneller Präzisionswaffen durchsetzen zu können. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde ein neues Kriegsbild entworfen und erprobt. Der prinzipiell unter den Schwächeren gewählte Gegner soll im Ergebnis von Informationskriegshandlungen im hohen Sinn der Verteidigung seiner Heimat und Werte erschüttert werden. Wenn es erforderlich wird, soll er durch konzentrierte militärische Gewalt bei minimalen eigenen Verlusten endgültig in die Knie gezwungen werden. Die militärischen Schläge sollen auf lebenswichtige zivile und stabilitätsfördernde militärische Objekte geführt werden, ohne mit dem Gegner in unmittelbaren Kontakt zu treten.
Unverwundbarkeitsillusion
Diese letzte Kriegsphase soll kurz, abschließend und erfolgsorientiert sein. Ausmaß und Charakter der Handlungen erreichen keine strategische Dimension. Der Raum der Kriegshandlungen wird auf geringere Teile eines Kriegsschauplatzes im Verständnis der Zeit des Kalten Krieges begrenzt. Der bewaffnete Kampf beschränkt sich auf Schläge mit konventionellen Vernichtungsmitteln gegen Erdziele aus den Sphären Luft und Kosmos und nicht selten von See her. Dem Opfer des Überfalls werden so Verfahren und Formen des Waffenganges aufgezwungen, in denen der Aggressor eindeutig im Vorteil ist. Kriege dieser Art können nur Staaten initiieren, die über kosmische Systeme der Aufklärung, Verbindung und Navigation verfügen sowie modernste Technologien und Kapazitäten für die Massenproduktion von Präzisionswaffen besitzen.
Die neue US-Administration will die Vernachlässigung der strategischen Wirksamkeit der Streitkräfte sowie ihre einseitige Orientierung auf die operativ-taktische Handlungsdimension und den taktischen Einsatz überwinden. Die USA wollen durch eigene Unangreifbarkeit, die schlagfähig bleiben soll, wieder gegenüber einer Reihe von großen Mächten, besonders Rußland und China, strategisch überlegen werden. Ende der 50er Jahre hatten die in Dienst gestellten schweren sowjetischen Interkontinentalraketen die USA ihrer durch die geographische Lage gesicherten praktischen Unverwundbarkeit beraubt. Jede der Seiten wurde nun schutzlos der Rationalität der anderen beim Umgang mit Kernwaffen ausgesetzt.
Verträge zur Begrenzung der strategischen Waffen (SALT) setzten auch den USA ein kontrollierbares Limit ihrer Rüstungen. 1972 wurden sie mit dem ABM-Vertrag verbunden. Jede der Supermächte durfte nur ein System der Raketenabwehr besitzen. Beide behielten dieZweitschlagsfähigkeit. Die Verwundbarkeit jeder Supermacht wurde entscheidender Stabilitätsfaktor. Auf Dauer haben es die USA nicht verwunden, stark zu sein, sich dem anderen abernicht aufzwingen zu können. 1983 setzten sie auf SDI. Laser- und Strahlenwaffen sollten im Weltraum stationiert werden und angreifende Kernwaffen abfangen können. Es wurde keine adäquate technische Lösung gefunden.
Heute ertragen es US-Amerikaner nicht, den Umgang mit ihrem konventionellen und ihrem nuklearen strategischen Potential von Verträgen abhängig machen zu müssen, die mit der untergegangenen UdSSR abgeschlossen worden sind. Erneut geht es den USA um die Entwicklung ihrer Verteidigungsfähigkeiten gegen strategische Angriffswaffen. Und erneut sind überzeugende technische Lösungen nicht in Sicht. Mit dem angestrebten Potential, in dessen Besitz sie erst nach zeit- und mittelaufwendigen Forschungen und Entwicklungen kommen können, werden real nur die Bedingungen für die Entwertung der vorhandenen strategischen Waffen Rußlands und Chinas geschaffen sein, nicht aber gegen vermeintliche Raketen von »Schurkenstaaten«.
(*) Hans-Werner Deim war Generalmajor der Nationalen Volksarmee (NVA) der Deutschen Demokratischen Republik und lebt in Strausberg bei Berlin. Sein Artikel ist eine für jW aktualisierte Fassung seines Aufsatzes »Die Streitkräfte im Herrschaftssystem der USA« im Heft 5/2001 der Marxistischen Blätter.
12.11.01
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